In der Diskussion um agile Transformationen und postmoderne Organisationen gibt es positive Stimmen, die in der Selbstorganisation von Teams, flacheren Hierarchien und einer stärkeren Kundenzentrierung einen Ausweg aus dem überholten patriarchalischen System sehen. Diese Veränderungen bieten die Möglichkeit zur Selbstentfaltung für viele Mitarbeiter, nicht nur für einige privilegierte Rollen innerhalb der Organisation. Doch um diese Vorteile zu realisieren, müssen wir uns auch mit den neuen Herausforderungen und Risiken auseinandersetzen.
Heute möchte ich auf zwei potenzielle Risiken eingehen: die unklare Rollen- und Aufgabenverteilung sowie toxische Kunden im Umgang mit Mitarbeitern.
Unklare Rollen- und Aufgabenverteilung
Eine unklare Rollen- und Aufgabenverteilung tritt häufig auf, wenn alte, klar definierte hierarchische Strukturen aufgebrochen werden. In einem Umfeld, in dem direkte und unbürokratische Kommunikation auf allen Ebenen möglich ist, können Zuständigkeitsbereiche verschwimmen. Dies kann dazu führen, dass einem in einem informellen Gespräch ein neues Projekt „aufgedrückt“ wird. Was zunächst verlockend erscheinen mag, kann bei genauerer Betrachtung enormen Druck erzeugen – schließlich muss das Tagesgeschäft ebenfalls erledigt werden.
Dieser Druck wird zusätzlich verstärkt durch einen Angst-Lust-Mechanismus: Die Hoffnung auf erhöhte Karrierechancen steht im Raum, während gleichzeitig die Gefahr des Ausbrennens oder des Verlusts einer guten Reputation droht, weil man sich übernommen hat. Hier wird deutlich, dass strukturelle Grenzen wegfallen, die die Mitarbeiter nun selbst ziehen müssen – sowohl eigenverantwortlich als auch in der Kommunikation nach außen.
Aus organisatorischer Sicht mag diese Entwicklung zunächst positiv erscheinen, da die Mitarbeiter intrinsisch zu Höchstleistungen motiviert werden. Doch um zu vermeiden, dass sich Krankschreibungen häufen und die Organisation im Chaos versinkt, weil die Mitarbeiter ihre Kapazitätsgrenzen falsch eingeschätzt haben, sollten dringend Gegenmaßnahmen ergriffen werden – wie beispielsweise individuelle Coachings.
Kundenzentrierung als Herausforderung
Die zweite Herausforderung betrifft die verstärkte Kundenzentrierung. Es scheint rational sinnvoll zu sein, Produkte oder Dienstleistungen an den Wünschen und Bedürfnissen der Kunden auszurichten. Folglich sollten auch die Mitarbeiter im Kundenkontakt empathisch und sensibel sein, um die Bedürfnisse der Kunden zu erkennen – zumal diese oft selbst nicht genau wissen, was sie benötigen.
Von den Mitarbeitern wird erwartet, dass sie neben speziellen Kommunikationsfähigkeiten auch Empathie zeigen und eine demütige sowie dienende Haltung einnehmen. Hier zeigt sich jedoch ein Problem: Viele Kunden sind sich ihrer bedeutenden Stellung bewusst und einige davon missbrauchen ihre Macht. Sie wissen, dass gute Mitarbeiter emotional kontrolliert bleiben sollen und nicht ausfallend reagieren dürfen.
Das Dilemma besteht darin, dass von den Mitarbeitern erwartet wird, einfühlsam gegenüber dem Kunden zu sein – gleichzeitig aber emotionslos zu bleiben bei persönlichen Angriffen. Auch hier benötigt es Unterstützung seitens der Organisation: klare Grenzen und verbindliche Vorgehensweisen im Falle von Grenzüberschreitungen sind unerlässlich. Zudem hilft eine vertiefte Schulung im Umgang mit schwierigen Kunden.
Ohne Rückendeckung seitens der Organisation jedoch, kann ein missbräuchlicher Umgang mit den eigenen Mitarbeitern entstehen, der das Unternehmensklima und letztlich auch die Unternehmenskultur negativ beeinflusst und der gesamten Organisation schadet.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die agile Transformation und die damit einhergehenden Veränderungen in der Organisationsstruktur sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich bringen. Während die Selbstorganisation von Teams und flachere Hierarchien das Potenzial bieten, die Kreativität und Eigenverantwortung der Mitarbeiter zu fördern, müssen Unternehmen gleichzeitig wachsam sein, um die psychologischen Belastungen zu erkennen und zu adressieren, die aus unklaren Rollenverteilungen und dem Druck einer übermäßigen Kundenzentrierung resultieren können. Es ist entscheidend, dass Organisationen nicht nur auf die positiven Aspekte der Transformation fokussiert sind, sondern auch proaktive Maßnahmen ergreifen, um ihre Mitarbeiter zu unterstützen und ein gesundes Arbeitsumfeld zu schaffen. Nur durch klare Strukturen, Schulungen und eine Kultur des respektvollen Umgangs kann das volle Potenzial agiler Ansätze ausgeschöpft werden. Letztlich liegt es an den Führungskräften, eine Balance zwischen Flexibilität und Stabilität zu finden, um sowohl die Bedürfnisse der Kunden als auch das Wohlbefinden der Mitarbeiter in den Mittelpunkt ihrer strategischen Überlegungen zu stellen. In dieser neuen Ära der Zusammenarbeit ist es unerlässlich, dass Organisationen nicht nur als wirtschaftliche Einheiten agieren, sondern auch als soziale Gemeinschaften, in denen jeder Einzelne wertgeschätzt wird und Raum für persönliche Entfaltung findet.
Comments