Wilfred Bion, ein britischer Psychoanalytiker und Psychiater, ist bekannt für seine tiefgreifenden Theorien über Gruppenpsychologie und die Dynamik von Arbeitsgruppen. Seine Konzepte haben nicht nur die Psychoanalyse beeinflusst, sondern auch das Verständnis von Gruppenverhalten in verschiedenen Kontexten, einschließlich Organisationen und sozialen Gruppen. In diesem Blogbeitrag werden wir uns mit Bions Thesen zu Arbeitsgruppen und Grundannahmegruppen auseinandersetzen.
1. Geschichtlicher Hintergrund
Bion entwickelte seine Theorien in der Mitte des 20. Jahrhunderts, während er an der Tavistock Clinic in London arbeitete. Er beobachtete, wie Menschen in Gruppen interagieren und welche unbewussten Prozesse dabei eine Rolle spielen. Seine Arbeit basierte auf der Annahme, dass Gruppen nicht nur aus Individuen bestehen, sondern auch eigene psychologische Dynamiken entwickeln.
2. Arbeitsgruppen und Grundannahmegruppe
Bion unterschied zwischen zwei Arten von Gruppen: Arbeitsgruppen und Grundannahmegruppen.
Arbeitsgruppen sind solche, die sich auf ein spezifisches Ziel oder eine Aufgabe konzentrieren. In diesen Gruppen stehen die Mitglieder in einem rationalen Austausch miteinander und arbeiten zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Die Kommunikation ist klarer und zielgerichteter, was zu einer effektiven Problemlösung führt.
Ein Beispiel für eine Arbeitsgruppe könnte ein Team von Fachleuten sein, das an einem Projekt arbeitet oder eine Strategie entwickelt. Hierbei sind die Rollen klar definiert, und es gibt einen Fokus auf Ergebnisse. In der Arbeitsgruppe dürfen verschiedene Stimme nebeneinander stehen, müssen jedoch auch mit einer gewissen Anstrengung ausbalanciert werden. Laut Bion ist die Arbeitsgruppe ein Idealtypus und diese Haltung kann nicht dauerhaft aufrechterhalten werden. Jede Gruppe gestattet sich zwischendurch Auszeiten, wobei sie zur Grundannahmegruppe wird.
Bion beschreibt die Grundannahmegruppen als eine regressive Gruppe, die sich durch psychosoziale Abwehr von den Erfordernissen der Realität entfernt. Diese Prozesse verlaufen unbewusst und können oft den rationalen Diskurs überlagern und das Verhalten der Mitglieder stark beeinflussen.
Bion identifizierte drei Haupttypen von Grundannahmen:
Abhängigkeit (Dependency): In dieser Grundannahme sieht die Gruppe den Anführer als Quelle der Sicherheit und Unterstützung. Die Mitglieder fühlen sich hilflos und suchen nach Führung.
Gegenseitige Feindschaft (Fight/Flight): Hierbei handelt es sich um eine aggressive Haltung gegenüber Bedrohungen oder Herausforderungen. Die Gruppe kann entweder kämpfen oder fliehen, was zu Konflikten oder Rückzug führen kann. Dabei werden Feindbilder konstruiert, die das Vertrauen erodieren und am Sinn der Arbeit zweifeln lassen.
Paarbildung (Pairing): Diese Grundannahme tritt auf, wenn Mitglieder versuchen, durch Partnerschaften oder Allianzen Stabilität zu finden. Oft wird angenommen, dass eine "retterische" Lösung durch diese Paarbildung gefunden werden kann. Dies kann sich auf zukünftige Konzepte beziehen, die die erhoffte Erfüllung bringen sollen .
Earl Hopper fügte später noch eine vierte Gruppe hinzu. Die sogenannte Inkohärenz in Form von Aggregation oder Vermassung. In diesem Fall kümmert sich das Individuum nur um sich selbst oder verschmilzt zu einer amorphen Masse wobei alle das Gleiche denken und fühlen. Diese Grundannahme spiegelt unbewusste Vernichtungsängste wieder.
3. Die Interaktion zwischen Arbeitsgruppe und Grundannahmegruppe
Bion betonte, dass jede Gruppe sowohl Elemente der Arbeitsgruppe als auch der Grundannahmegruppe enthält. Während die Arbeitsgruppe auf das Erreichen eines Ziels fokussiert ist, können die unbewussten Dynamiken der Grundannahmegruppe den Fortschritt behindern oder fördern.
Ein Beispiel hierfür könnte ein Teammeeting sein: Während die Mitglieder versuchen, Lösungen für ein Problem zu finden (Arbeitsgruppe), können gleichzeitig emotionale Spannungen oder Machtkämpfe auftreten (Grundannahmegruppe), die den Prozess stören.
4. Bedeutung für Organisationen
Die Erkenntnisse von Bion sind besonders relevant für Führungskräfte und Teamleiter in Organisationen. Ein Bewusstsein für diese Dynamiken kann helfen:
Konflikte besser zu verstehen: Indem man erkennt, wann emotionale Prozesse dominieren.
Effektive Kommunikation zu fördern: Durch das Schaffen eines sicheren Raums für offene Diskussionen.
Teamdynamiken zu steuern: Um sowohl produktive als auch gesunde Beziehungen innerhalb des Teams zu fördern.
Fazit
Wilfred Bions Theorien zur Arbeitsgruppe und Grundannahmegruppen bieten wertvolle Einsichten in das Verhalten von Menschen in Gruppen. Sein Ansatz hilft uns zu verstehen, wie unbewusste Prozesse unsere Interaktionen beeinflussen können und wie wichtig es ist, sowohl rationale als auch emotionale Aspekte in Gruppensituationen zu berücksichtigen. Statt sich auf das unrealistische Menschenbild des Homo oeconomicus zu berufen, sollten Führungskräfte und Teammitglieder erkennen und akzeptieren, dass solche unbewussten Dynamiken existieren, und aktiv damit umgehen, um effektive Zusammenarbeit zu gewährleisten.
Durch das Verständnis dieser Konzepte können wir nicht nur unsere eigenen Erfahrungen in Gruppen verbessern, sondern auch dazu beitragen, gesündere und produktivere Teamumgebungen zu schaffen.
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