Hast du schon einmal in einer bestimmten Situation untypisch reagiert und dich danach gefragt, wie das passieren konnte? Möglicherweise bist du der Macht der projizierenden Identifikation oder einer Gegenübertragungsreaktion erlegen. Die systemisch-psychodynamische Organisationsberatung beschäftigt sich mit diesen Phänomenen, indem sie Erkenntnisse und Methoden aus dem therapeutischen Bereich auf den Arbeitskontext überträgt. Übertragung, Gegenübertragung und projektive Identifikation sind nicht nur in der Therapie relevant, sondern begleiten uns auch im Alltag. Es ist hilfreich, diese Vorgänge zu verstehen, da sie unser Handeln beeinflussen – oft nicht zum Positiven.
1. Was ist Übertragung?
Übertragung bezeichnet die Reaktivierung unbewusster Erlebens- und Verhaltensmuster, die ursprünglich in Bezug auf frühere Bezugspersonen entwickelt wurden. Diese Muster werden dann auf eine gegenwärtige Person übertragen.
Beispiel: Ein Mitarbeiter überträgt auf seine Führungskraft väterliche, beschützende Eigenschaften.
2. Was ist Gegenübertragung?
Gegenübertragung ist die meist unbewusste Reaktion auf die Übertragung. Sie geschieht, wenn jemand ungewollt auf die ihm zugeschriebene Übertragung reagiert.
Beispiel: Die Führungskraft nimmt die ihm übertragenen Eigenschaft mehr oder weniger bewusst wahr und verhält sich tatsächlich beschützend dem Mitarbeiter gegenüber.
3. Was ist projektive Identifikation?
Bei der projektiven Identifikation spaltet eine Person unerwünschte Gefühle oder Erfahrungen ab und projiziert diese auf andere. Der Empfänger dieser Projektion nimmt die Gefühle wahr, identifiziert sich damit und handelt entsprechend.
Beispiel: Eine Mitarbeiterin möchte selbst eine gerechte Person sein und erlaubt sich nicht eigene ungerechte Anteile zu haben. Deshalb spaltet sie diesen Teil ab und projiziert ihn auf eine Führungskraft. Die Führungskraft nimmt diese Projektion unbewusst auf, identifiziert sich damit und verhält sich tatsächlich ungerecht.
4. In welchen Arbeitssituationen treten diese Phänomene auf?
Übertragung und Gegenübertragung sind nahezu immer präsent. Besonders Führungskräfte können alte Beziehungsmuster aktivieren und unreflektierte Charakterzüge zugeschrieben bekommen, die man von Eltern oder Lehrern kennt. Hier kann die Führungskraft nur hoffen, dass es positive Erfahrungen sind.
Die projektive Identifikation tritt häufig in belastenden Situationen auf, wie bei Arbeitsüberlastung oder Veränderungsprozessen. Wenn die daraus resultierendem inneren Konflikt überfordernd sind, verschafft es Entlastung die belastenden Anteile auszulagern.
Auf diese Weise kann auch ein strukturelles Problem – dessen Lösung eigentlich auf struktureller Ebene erfolgen sollte – auf Einzelne oder Gruppen verschoben werden, die dann als Sündenböcke fungieren müssen und am besten beseitigt werden. Damit ist das Problem aber natürlich nicht gelöst.
Fazit
Die systemisch-psychodynamische Organisationsberatung bietet wertvolle Einsichten in die unbewussten Prozesse, die unser Verhalten am Arbeitsplatz beeinflussen. Übertragung, Gegenübertragung und projektive Identifikation sind alltägliche Phänomene, die insbesondere Führungskräfte betreffen. Ein Bewusstsein für diese Dynamiken kann helfen, negative Auswirkungen auf die Unternehmenskultur zu vermeiden und eine gesunde Kommunikations- und Arbeitsumgebung zu fördern. Es ist entscheidend, dass Führungskräfte lernen, ihre eigenen Emotionen sowie die ihrer Mitarbeiter wahrzunehmen und als Indikatoren für den Zustand der Organisation zu interpretieren.
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